Obwohl unser Übernachtungsort auf gut 1800 m liegt, wurde die Nacht nicht wirklich kühl. So wachten wir früh auf und bereiteten die Weiterfahrt vor. Beim Herausschieben aus dem Haus bemerkte Diez, dass der Luftdruck seines Hinterrades nachgelassen hatte. Er pumpte in der Hoffnung nach, er könne die Reparatur aufschieben. Nach nur einem Kilometer stand jedoch fest, dass das Loch zu groß war. Glücklicherweise befand sich dort eine Tankstelle mit einem schattigen Platz. Schon bald bot ein Lkw-Fahrer, der die Strecke München-Aserbaidschan fährt und etwas Deutsch spricht, seine Hilfe an. Auf fremde Hilfe dürfen Radfahrer in diesem Teil der Türkei jedoch nicht angewiesen sein, schließlich kann es ihnen passieren, dass sie im Umkreis von 30 km weder eine Raststädte noch eine Tankstelle finden. Fahrten über Land mit dem Fahrrad, wie wir sie praktizieren, sind hier ohnehin die absolute Ausnahme. In den Städten gibt es einige Fahrradfahrer. Auf den langen Strecken zwischen den Städten sahen wir wenige Motorradfahrer. Radfahrern hingegen, die längere Touren fahren, begegneten wir in der ganzen Türkei maximal einer Handvoll. Und das waren bis auf eine Ausnahme (ein einsamer Radler aus Ankara, der uns an der Ägäis entgegenkam) Ausländer.
Die Ursache des schleichenden Platten war erneut ein winziges Drahtstück. Der nette Lkw-Fahrer versorgte uns noch unaufgefordert mit Kaffee, bevor er sich wieder hinter sein Lenkrad setzte.
Wegen der Reparatur konnten wir bei inzwischen deutlich gestiegener Temperatur erst gegen 9:30 Uhr weiterfahren. Die ersten 30 km ging es ein wenig bergab, so dass wir schon nach 1:10 Stunden in Ağrı ankamen. Die erste Wasserflasche war schon ausgetrunken und so fuhren wir eine Tankstelle an. Hier gab es nur kleine Flaschen, so dass man uns freundlicherweise anbot, uns kostenlos aus dem Wasserspender zu bedienen. Die ganze Tankstellenbesatzung stand neben den Rädern und bewunderte die Strecke, die wir schon gefahren sind und die Ziele, die wir noch haben. Der unvermeidliche Tee wurde gereicht, den man an fast jeder Tankstelle unentgeltlich angeboten bekommt. Als er mitbekam, dass wir aus Deutschland stammen, gesellte sich ein Lkw-Fahrer aus dem Iran zu uns. Er spricht recht gut Englisch und berichtete, dass er bereits aus ganz Europa, z. B. aus London, Fracht nach Teheran gefahren habe. Er gab uns wie selbstverständlich seine und die Daten seiner Verwandten in Teheran, die wir ansprechen könnten, wenn wir im Iran Hilfe benötigten. Wir gelangen inzwischen zu der Überzeugung, dass man, um die schon legendäre Gastfreundschaft der Iraner zu erleben, gar nicht ins Land fahren muss, denn was wir schon außerhalb des Landes an Freundlichkeiten erfahren haben, ist überwältigend. Bessere Botschafter kann sich ein Land nicht wünschen.
Zum Ende unserer heutigen Etappe wurde es noch einmal aufregend. Während der vielen Kilometer, die wir inzwischen in der Türkei gefahren sind, gab es immer wieder Baustellen, bei denen eine Richtungsfahrbahn zur Erneuerung gesperrt wurde. Die jeweils zwei Fahrspuren pro Richtung werden dabei auf eine reduziert. Wird unsere Fahrspur auf die Gegenfahrbahn übergeleitet, bleibt vom meist üppigen Seitenstreifen für uns nicht mehr viel übrig. Die meisten Auto- und Lkw-Fahrer sind sehr rücksichtsvoll und es funktioniert in der Regel dennoch. Manchmal haben uns Bauarbeiter sogar die noch nicht offiziell freigegebe Fahrbahn exklusiv nutzen lassen, was äußerst komfortabel ist, nicht zuletzt, da diese noch nicht mit Glasscherben oder Karkassendrähten kontaminiert ist.
Die heutige Baustelle war anders: Ein Stück der Straße war nur einspurig befahrbar. Männer mit roten Fahnen ließen abwechselnd jeweils den Verkehr einer Richtung passieren. Im Anschluss gab es dann nichts mehr, was als Straße bezeichnet werden kann. Es handelte sich um eine mit dicken Steinen durchsetzte Lehmpiste auf der sich Schlagloch an Schlagloch reihte. Zu allem Überfluss hatte, kurz bevor wir diesen Abschnitt befuhren, ein Wagen zum Binden des Staubs die Piste mit Wasser in eine schmierige Rutschbahn verwandelt. Während Diez die Situation gelassen hinnahm, lagen Dagmars Nerven blank, denn ein Sturz wäre hier nicht nur unangenehm gewesen, sondern hätte sogar gefährlich werden können. Auch diesen Abschnitt überstanden wir und konnten den Rest der Strecke auf der neuen Fahrbahn zurücklegen.
Am Zielort angekommen, fanden wir ein sog. Apart-Hotel, das uns mit einem großzügigen Appartement in gutem Zustand überrraschte. Es gibt sogar eine Waschmaschine, die Dagmar sofort in Betrieb nahm. (Dafür fehlt jegliches Geschirr oder Besteck und wir fragen uns, wie es aussieht, wenn türkische Mieter in eine solche Unterkunft einziehen.)
Als Diez anschließend zu einem Geldautomaten ging, stellte er fest, dass wir in diesem relativ kleinen Ort bereits das Stadtgespräch zu seien scheinen. Kaum jemand, der ihn nicht grüßte und nicht wenige der vor ihren Läden oder den Teestuben sitzenden Männer luden ihn spontan zum Tee ein. Zu einem, der ihn in gebrochenem Englisch ansprach, setzte er sich und musste von unserer Reise berichten. Weitere Männer, die ihm sogleich ausführlich vorgestellt wurden, gesellten sich zu der Runde und schließlich wurde Diez sogar zu dem Mann nach Hause eingeladen. Es fällt schwer, so viel Gastfreundschaft auszuschlagen.
Beim Kauf einer Lüsterklemme, die wir zur Reparatur einer unserer Abstandswimpel benötigen, kam wieder die ganze Hilfsbereitschaft der Türken – oder genauer gesagt der Kurden, um die es sich hier überwiegend handelt – zum Ausdruck. Der Übersetzer von Google enthält das Wort „Lüsterklemme“ nicht und selbst eine Skizze des gesuchten Objekts half nicht weiter. Erst mit den vereinten Kräften des Personals eines benachbarten Ladens wurde das gesuchte Objekt schließlich identifiziert. Wir werden wahrscheinlich auch dieses Land, ähnlich wie damals Spanien, mit etwas Wehmut verlassen.
Aufnahmedatum 20/07/2017
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Die Friedhofsordnung scheint hier etwas liberaler zu sein als in Deutschland Wo?Nach Rechtsklick
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